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Über die
BLUEGRASS  MUSIC (1)
Bluegrass-Gospel (Teil 1)
Vorwort, Einleitung und Blick in die Kirchengeschichte - ein Zeitdokument
Von Eberhard Finke


Die Abhandlung "BLUEGRASS-GOSPEL" von Eberhard Finke erschien zuerst in COUNTRY CORNER, 11. Jahrgang Nr. 47 vom Dezember 1975. Den Beitrag veröffentliche ich in 3 Folgen: Einleitung und Blick in die Kirchengeschichte / Gospel und Old Time Music / Gospel und Bluegrass Music

Ein Neuling in unserem Gebiet wird sich, wenn er Platten oder Kataloge durchsieht, wundern, in wieviel Liedern religiöse Themen behandelt werden und wieviele Alben ausschließlich dem "Gospel" oder "Sacred" Material gewidmet sind. Bei der Musik der amerikanischen Schwarzen gelten Spirituals und Gospel als selbstverständlich, nennen wir nur das Golden Gate Quartet oder Mahalia Jackson als populärste Vertreter. Schlager und Pop dagegen kennen solche Thematik kaum. In der Country Music hat kaum ein Sänger ganz auf dieses Gebiet verzichtet (Jimmie Rodgers gehört dazu), aber nicht wenige Sänger, vor allem Gruppen, haben sich bis heute ganz und gar dieser Sparte verschrieben. Besonders im Bluegrass sind die "beautiful sacred selections" (Überschrift in einem alten Plattenkatalog) besonders oft gehört. Diese Verbindung ist kein Zufall, sondern das Ergebnis bestimmter Grundlagen und Entwicklungen. Diese wollen wir untersuchen mit Hilfe zweier neuer Aufsätze von Archie Green und Howard Wight Marshall, dann das Liedmaterial analysieren und ordnen.

Blick in die Kirchengeschichte
Das Jahrhundert von etwa 1740 bis 1840 verzeichnet das Entstehen und Gedeihen zahlreicher Sekten in Europa. Unzufriedenheit mit der römisch-katholischen Kirche, aber auch mit dem gar zu starren Calvinismus und der Anglikanischen Kirche in England waren eine Ursache dafür. Dieser Widerstand gegen das kirchliche Establishment zeigte sich vor allem in den unteren und mittleren Schichten, die sich von der Kirche verraten vorkamen. Parallel zu dieser Repression in Glaubensfragen wurde in weiten Teilen Europas wirtschaftliche und kulturelle Unterdrückung ausgeübt (ein aktuelles Beispiel für das Fortbestehen dieses unheilvollen Komplexes ist der Bürgerkrieg in Nordirland - viele Wurzeln der Country Music reichen nach Irland zurück!).

Abtrünnige Gemeinden zogen also nach Nordamerika, wo sie sich mehr Freiheit und Toleranz erhofften. Dort aber war in den "zivilisierten" Gegenden des Ostens die Anglikanische Kirche schon so gefestigt, daß den enttäuschten Neuankömmlingen nur der Weg in die Wildnis blieb. Freilich, zu der von anderen geforderten Toleranz waren sie selbst nicht immer bereit, und so machten sie sich oft nach Kräften unbeliebt; umgekehrt vollbrachten sie einige der größten Leistungen in der Besiedlung des Landes, wie etwa die Mormonen mit der Besiedlung von Salt Lake City.

Nach der Unabhängigkeitserklärung der USA, bei der auch die religiöse Freiheit des Individuums garantiert wurde, begann der Einfluß der etablierten Kirche weiter zu sinken, und die auftretende Lücke wurde alsbald durch allerlei neue Sekten gefüllt. Gerade die in die Wildnis verbannten Gemeinden gewannen ungeahntes Ansehen und Bedeutung, und in Abkehr von den alten liturgischen Gepflogenheiten und der starren Kirchenhierarchie entwickelten sich die "Brush Arbor Meetings" und "Camp Meetings", religiöse Veranstaltungen ganz nach dem Belieben der Veranstalter, frei von Reglementierung von oben und so dem Demokratiebegriff entsprechend mit starker Betonung von Erweckung und Bekehrung.

Die Musik dieser Treffen war durch drei Eigenschaften gekennzeichnet. Zuerst das "Shape Note Singing": wandernde Gesangslehrer zogen von Gemeinde zu Gemeinde und lehrten den einfachen Leuten das Singen mit Hilfe eines einfachen Notensystems; die Tonhöhe wurde nicht mit unseren fünf Linien gekennzeichnet sondern durch verschiedenartig geformte Noten. Erst dadurch wurde das Singen in den Südstaaten zu einer allgemein verbreiteten Kunst. Die Bedürfnisse der Gemeinde änderten den vorgegebenen hohen klagenden Einzelgesang um ins mehrstimmige "Harmony"-Singen. Über und unter dem "Lead"-Sänger gab es Tenor, Bariton und Baß in kunstvoller und typischer Verbindung. Dieser Gesangsstil war gleichzeitig Ersatz für die Instrumentalbegleitung, denn ein Klavier oder gar eine Orgel war natürlich selten. Wie sich dieser Gesang genau anhörte, etwa im Unterschied zu heutigen Bluegrassharmonien, läßt sich nicht mehr feststellen. Jedenfalls läßt sich ein Gospelsong auch ohne Textverständnis ohne weiteres als solcher an der Art des Singens erkennen. Ebenso gab es keine Gesangbücher - oder die Leute konnten nicht lesen. Dem wurde abgeholfen durch das "Lining The Hymns": der Prediger sang ein oder zwei Zeilen vor, und die Gemeinde sang nach (dieser Trick hat sich auch sonst ohne äußeren Zwang gehalten bis hin zur Ray Charles-Aufnahme von "I Can´t Stop Loving You").

Die zunehmende Industrialisierung vormals ländlicher Gegenden und der damit verbundene Zerfall alter Lebensformen und Verhaltensnormen bekräftigte das Verlangen nach der "Old Time Religion", die sich am Buchstaben der Bibel orientiert und das Einbringen wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Religion ablehnt. Diese "Fundamentalisten" betonten die Möglichkeit des einzelnen, durch Buße, Bitte um Vergebung und mehr oder weniger Entsagung von irdischen Freuden zur Erlösung zu gelangen. Alle diese frühen protestantischen Sekten rekrutierten sich aus der unteren und arbeitenden Klasse; der spätere amerikanische Protestantismus des industriellen Zeitalters dagegen nahm sich mehr der Mittelklasse an. Vor diesem Hintergrund also muß das Teilgebiet "Sacred" oder "Gospel" der Country Music gesehen werden (der Gebrauch dieser Begriffe ist zu fließend, als daß sich genaue Unterscheidungen und Definitionen treffen ließen).

Teil 2  "Gospel und Old Time Music" und  Teil 3  "Gospel und Bluegrass Music"