Uhr

“Ich bin stolz ein Redneck zu sein“
GRETCHEN WILSON
Von Ulrich Rechau
 

Einer der größten Neuentdeckungen der Countrymusic des Jahres 2004 ist Gretchen Wilson. Ihre Debutsingle “Redneck Woman“ kam auf Anhieb auf den ersten Platz der Country-Hitparade. Das Album “Here For The Party“ verkaufte sich bisher über 4 Millionen mal. Bei der letzten CMA-Award-Verleihung wurde der jungen Künstlerin der begehrte “Horizon-Award“ verliehen. Die Auszeichnung nahm sie mit den Worten entgegen: “Ich kam im vergangenen Jahr hier her und saß weit im Auditorium weit hinten, und träumte davon einmal hier oben zu stehen. Ich dachte niemals, daß es so schnell gehen könnte.“ Bei der 47. “Grammy-Awards-Show“ in Hollywood wurde sie mit dem Award “Best Female Country Performance“ ausgezeichnet. Das ist für eine aufsteigende Countrysängerin ein mehr als beachtlicher Erfolg. 

Was macht Gretchen Wilson so erfolgreich? Die Antwort liegt wahrscheinlich in ihrer Biographie. Sie stammt aus einfachsten Verhältnissen und trägt deshalb ihre musikalischen Botschaften glaubwürdig vor. Getreu dem Muster “Sie ist eine von uns“ können sich viele Leute damit identifizieren. Gretchen Wilson: “Ich bin ein einfacher Redneck und stehe dazu.“ 

Geboren wurde sie am 26. Juni 1973 in Pocahontas/Illionois, einer kleinen Stadt mit ca. 727 Einwohnern 60km östlich von St. Louis. Gretchen dazu: “Dort kennt jeder jeden. Da gibt es zwei Tankstellen, ein Motel mit zwölf Zimmern, ein Restaurant und fünf Bars. Das ist es. Es gibt dort noch nicht einmal ein Lebensmittelgeschäft.“ Sie selbst wuchs in einer Wohnwagensiedlung auf. Als Gretchen zwei Jahre alt war, verließ ihr Vater die Familie. Die Mutter war gerade mal sechzehn Jahre alt. Immer wenn das Geld für die Miete nicht reichte, zogen Mutter und Tochter in einen anderen Wohnwagen um. Gretchen blickt zurück: “Weil meine Mama damals sehr jung war, machte sie viele Fehler. Wir hatten ein sehr schweres Leben, es gab Zeiten, wo wir beide nichts hatten.“ 

Zum Glück gab es noch die Großeltern, Vernon und Frances Heuer. Großvater Heuer, ein Kriegsveteran, der ein Bein im zweiten Weltkrieg verlor, war ein etwas merkwürdiger Kauz. Gretchen: “Vernon vertraute keiner Bank. Seine Ersparnisse bewahrte er in einem Tonkrug auf, den er im Garten vergrub.“ Oma Frances dagegen war eine sehr herzliche Person, die ihre Kinder und Enkel sehr liebte. Gretchen erinnert sich: “Oma war für mich die Hauptperson. Sie hielt die Familie zusammen, wenn etwas falsch lief. Sie selbst hatte ein hartes Leben und nichts für sich, aber trotzdem für jeden etwas übrig. Ich war immer sehr gerne bei ihr.“ Großmutter Frances besaß auch eine Sammlung von Patsy Cline- und Loretta Lynn-Singles. Dadurch kam Gretchen selbstverständlich auch mit Countrymusic in Berührung. Gretchen: “Ich konnte die Aussagen der damaligen Countryhits gut nachempfinden und mir vorstellen, wie es ein könnte, einen misshandelnden Ehemann zu haben.“ Im Gegensatz zu anderen Kindern spielte sie nicht draußen, sondern saß in Omas Zimmer und lauschte den Platten von Patsy Cline. 

Die musikalischen Einflüsse steuerte die Großmutter bei, das Talent zum Gesang hatte Gretchen von ihrem Vater geerbt. “Ich traf ihn erstmals im Alter von zwölf Jahren, seit er uns verlassen hatte,“ erklärt Gretchen und führt fort, “er hatte eine Gospelband. Mein Vater spielte Gitarre und sang.“ 

Nach der achten Klasse verließ Gretchen Wilson die Schule. Bereits mit vierzehn Jahren half sie ihrer Mutter in einer Bar namens “Big O’s“ in der Küche. Diese Bar war ein raues Lokal, wo es am Wochenende regelmäßig hoch her ging. Ein Jahr später half Gretchen auch direkt an der Theke. Hier hat sie wahrscheinlich ihr späteres Durchsetzungsvermögen erlernt. Im “Big O’s“ fing sie selbst mit dem Gesang an. Für ein Trinkgeld sang Gretchen Wilson. Am Ende des Abends waren circa zwanzig Dollar im Topf, die sie zum Lebensunterhalt der Familie beisteuerte. 

Im Alter von zwanzig Jahren fand Gretchen Wilson Anschluss als Sängerin bei einer Countryband. Dadurch konnte sie weiter an ihren Fertigkeiten feilen. Gretchen kam zu der Erkenntnis, daß es außerhalb von Pocahontas/Il mehr Leben gibt: “Es hängt von dir ab, was du aus dir machst.“ Gretchen hatte den Wunsch, ihr Leben nicht als Sängerin einer Coverband zu verbringen. 

1996 fasste Gretchen Wilson den Entschluss, in Nashville/Tn das Glück zu suchen. Dort angekommen stellte sich das Leben schwieriger dar als angenommen. Gretchen: “Am Broadway konnte ich nicht den Lebensunterhalt verdienen.“ Bei einer Begegnung mit einem Musiker fragte sie: “Ich bin ganz neu hier. Was muß ich tun, um ins Musikgeschäft zu kommen?“ Der Musiker schmunzelte und sagte: “Du mußt dir selber ein Geschäft aufbauen.“ Es dauerte etwas, bis Gretchen den Sinn dieser Antwort verstanden hatte. 

In der nächsten Zeit begann sie als Barkeeper in der “Bourbon Street Blues & Boogie Bar“ an der Printers Alley zu arbeiten. Es war nicht der Start, den sie sich erhoffte, aber die einzige Alternative zur Rückkehr nach Illionois. Zusätzlich zur Arbeit an der Theke betätigte sich Gretchen auch als Sängerin in der Hausband. Es sollte einige Jahre dauern, bis sich das Blatt wendete. An einem Freitagabend betraten Big Kenny und John Rich die Bar an der Printers Alley, um sich einen Drink zu genehmigen. Gretchen sang an diesem Abend wieder mit der Band. Gretchen Wilson erinnert sich: “John folgte mir nach meinem Auftritt an die Bar und sprach mich an: ’Hey, willst du einen Schallplattenvertrag haben?’ Ich nahm die Sache nicht ernst, gab ihm meine Visitenkarte, eine Democassette und sagte verärgert ’Ich bin beschäftigt, ich arbeite hier.’“ Zur Erklärung: John Rich war früher Mitglied der Band “Lonestar“ und ist heute Hälfte des Countryduos “Big & Rich“. 

Gretchen Wilson ließ es dabei bewenden. John Rich versuchte mehrfach Kontakt aufzunehmen. Einige Monate später sagte jemand zu ihr: “Ich würde zurückrufen. John könnte dir helfen.“ Kurze Zeit danach stellte John Rich Gretchen verschiedenen Leuten im Musikgeschäft vor. Das half ihr ein Engagement als Demosängerin zu bekommen. Gretchen: “Damit hatte ich den Fuß in der Tür. Danach begann ich mich als Autorin zu betätigen. Aber es dauerte etwas, bis ich damit gut wurde.“ Gretchen Wilson wurde Mitglied der “Muzik Mafia“. Das ist eine Gruppierung von Sängern, Autoren und Musikern in Nashville, die regelmäßig jeden Dienstag in einem Club eine Session veranstalten. Das alles half ihr, die Karriere zu vervollkommnen. 

Als Autorin brachte Gretchen Wilson alleine oder als Co-Autorin mit John Rich 80 Songs zu Papier. Gretchen: “Mit John habe ich ein fast brüderliches Verhältnis. Wenn wir einen Text entwerfen, können wir fast gegenseitig Gedanken lesen. Wir kennen uns mittlerweile sehr genau.“ In ihren Aussagen ist Gretchen Wilson genauso deutlich, wie seinerzeit Loretta Lynn in ihren Hits.  

Dann bekam sie ihren lang ersehnten Schallplattenvertrag bei Sony Music in Nashville. Sony-Chef John Grady: “Wir sind sehr erfreut über Gretchen Wilson. Gott sei Dank unterschrieb sie ihren Vertrag bei uns.“ Danach ging es im Aufnahmestudio ans Werk. Als Produzent wirkte auch John Rich mit. Das Ergebnis war das am Anfang genannte Album “Here For The Party“, das Gretchen Wilson einen geradezu mustergültigen Senkrechtstart ermöglichte. Mit ihrer Single “Redneck Woman“ traf sie den Nerv des Publikums. Gretchen ist keine Shania Twain oder Faith Hill, sondern sie stellt sich als Vertreterin des einfachen Volkes dar. So etwas hat in der Countrymusic seit längerem gefehlt. 

An dieser Stelle soll auch noch einiges zum Album Here For The Party gesagt werden. Als Co-Autorin hat sie selber sechs Titel mit verfasst. Die Hitsingle “Redneck Woman“ zeigt autobiographische Züge. Sie singt vom Leben der weißen unteren Mittelklasse. Mit Aussagen wie “Ich trinke keinen Champagner sondern Bier“ und “Ich kaufe meine Unterwäsche im Wal-Mart“ trifft sie den Nerv des Publikums. Das Ganze erinnert etwas an den Top Ten-Hit “Trashy Woman“ von Confederate Railroad aus dem Jahre 1993. Musikalisch ist das Ganze ein herrlicher Shuffle, der einen mitgehen läßt. Die Bassgitarre erinnert einen an den Chuck Berry-Klassiker “Memphis/Tennessee“. Nicht so gut kommt der Titelsong “Here For The Party“ herüber. Inhaltlich ein typischer “Honky Tonker“, musikalisch nicht sonderlich country. Viel besser dagegen der Titel “When I Think About Cheatin’“, der sich wie eine Countryballade aus den siebziger Jahren darstellt. Tammy Wynette lässt grüßen. Ähnlich präsentiert sich “Homewrecker“. Gretchen Wilson setzt sich mit weiblicher Konkurrenz auseinander. Das Thema “Beziehung“ ist auch der Inhalt von “Holdin’ You“. Völlig deplaziert ist “Chariot“. Pure Rockmusik mit einem konfusen Text gehören nicht auf ein Countryalbum. Die Ballade “What Happened“ handelt von einer gescheiterten Beziehung. Ein herrlicher “Drinkin’-Song“ ist “When It Rains“. Das Ganze kommt richtig schön country herüber. So muß es sein. Musikalisch und vom Gesang her hätte es von Heather Myles sein können. Das Lied “The Bed“ singt Gretchen Wilson gemeinsam mit dem Duo “Big & Rich“. Der Text handelt von einem Paar, das sich auseinander gelebt hat. Den Abschluss des Albums macht “Pocahontas Proud“. Hier besingt Gretchen Wilson sehr autobiographisch ihr Leben in Pocahontas. Soviel zum Album “Here For The Party“ (Epic    EK90903).

Rückwirkend zu ihrem Erfolg sagt Gretchen Wilson: “Als ich Pocahontas verließ, um nach Nashville zugehen, wünschten mir die Leute von Herzen alles Gute. Dann hörten sie fünf Jahre lang nichts von mir. Ich wurde mit Sicherheit von vielen vergessen. Heute hören sie mich im Radio. Meine Familie und die anderen in Pocahontas sind heute richtig stolz auf mich.“ 

Mit Gretchen Wilson hat die Countrysmusic eine Bereicherung erfahren. Der Erfolg spricht dafür, was mit den “Horizon Award“ von der CMA und einem “Grammy“ bewiesen ist. Wollen wir mal schauen, wie es in Zukunft mit ihr weitergeht.