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Erinnerungen
Wie war das mit der Country Music in Deutschland ab Mitte der 50er Jahre?
Von Hauke Strübing

 

4. Kapitel (3)
Als ich die Country Music entdeckte
1960: AFN Munich

 

"AFN MUNICH, Library Sgt....“ (2)

Ich kam an diesem Morgen gar nicht mehr aus dem Staunen heraus und musste immer wieder feststellen, wie falsch meine Vorstellungen doch waren, die ich mir im Laufe der Zeit gemacht hatte. Alle Musikstücke kommen grundsätzlich von Schallplatten, die in fast überdimensionaler Größe extra für den Armed Forces Network gepresst werden. Sie sind deshalb auch nur auf Spezialplattenspielern abzuspielen. Auf jeder Platte befinden sich etwa 10 Songs, so dass eine gute Qualität gewährleistet ist. Ja, sogar die Aufnahmen der "Grand Ole Opry", die jeden Samstag über AFN ausgestrahlt werden, werden von Platten abgespielt. Wenn ich aber von "grundsätzlich" spreche, muss es Ausnahmen geben. Nicht alle Sendungen des "Hillbilly Reveille" waren Live-Shows. Teilweise wurden sie - und werden sie - von Tonband gespielt. Ich erfuhr es damals von Jim Carter und wundere mich heute nicht,wenn ich manchmal dieselbe Reihenfolge der Hillbillies und auch dieselben Namen zu hören vermutete. Ein kleiner Hinweis für diejenigen, die jetzt feststellen wollen, ob es sich um eine Live­ oder Konserven-Show handelt: sagt der Deejay die Zeit und eventuell das Datum des entsprechenden Tages an, ist es sicher eine Live-Show. Andernfalls nicht. 

Der Deejay gestaltet eine ganze Show allein quasi ohne fremde Hilfe. Ausgenommen natürlich Einleitungs- und Ausleitungsthema. Auf zwei Studioplattenspielern spielt er abwechselnd die einzelnen Songs hintereinander ab. Zwischendurch macht er dann seine Ansage - natürlich ohne Konzept. Es kommt auf das Können des Deejays an, ob er es versteht, auch ohne Unterlagen die verbindenden Worte zu finden. Ich fand damals die Ursache heraus, warum sich der AFN in seiner Art von den Deutschen Rundfunkstationen unterscheidet. Jede Show findet nämlich sofort Anklang, weil durch die Stegreifsendung ein Verhältnis persönlicher Art geschaffen wird. Den deutschen Rundfunkanstalten mangelt dies in dieser Hinsicht voll und ganz. Das kam mir anlässlich eines Besuches beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt/Main zum Bewusstsein. Es ist lange nicht damit abgetan, irgend einen bunten Abend mit humoristischen Einlagen zu senden; der persönliche Kontakt fehlt dabei. Er fehlt solange, bis der Hörer den Eindruck gewinnt: hier sitzt ein Disk-Jockey am anderen Ende, der den Hörer vielleicht im nächsten Augenblick ansprechen könnte.

AFN München besitzt als eine der kleinsten Sendestationen ca. 20.000 Schallplatten. AFN Berlin besitzt vergleichsweise etwa 30.000 Platten. Jim Carter führte mich durch die Library und blieb schliesslich vor einer Kartei stehen, in der alle bei AFN München vorhandenen Hillbillies aufgezeichnet sind. Mir kamen in diesem Augenblick Anita Carter's Worte:  "... the longest list I ever saw" (aus "Hillbilly Heaven") zum Bewusstsein. In alphabetischer Reihenfolge sind hier viele Künstler - um nicht zu sagen:alle Künstler– aufgeführt:Solche mit bekanntem Namen und solche ohne Namen. Eine Kartei nach den Songtiteln geordnet gibt es beim AFN nicht. Es ist also für jeden Hörer, der AFN anschreibt, wichtig, dass er unbedingt den Namen des Sängers mit angibt. Bei dem Umfang der Lieder ist es dem Deejay fast unmöglich, alle Titel im Kopf zu haben. 

Ich musste mich damals auf Grund dieser Aufzeichnungen belehren lassen, dass das Archiv der einzelnen Sendestationen unterschiedlich ist. Ob man es glaubt oder nicht! So existieren bei AFN München nicht Aufnahmen wie "Wondering" mit Webb Pierce, "Don't Let The Stars Get In Your Eyes" mit Skeets McDonald, "The Old Country Church" Opry-Aufnahme mit Hank Williams und Little Jimmy Dickens, "Just Before Dawn" mit Johnny und Joanie Mosby. Ausser "Welcome Home" sind von Skeets McDonald keine weiteren Aufnahmen zu finden. Es ist also auch hier zwecklos, sich diese Lieder zu wünschen. Der DJ könnte sie nicht spielen. Möglicherweise hat AFN Frankfurt ja diese Aufnahmen. Man sollte es also dort versuchen. 

Nach diesem ausgiebigen Studium wendeten wir uns der inzwischen eingegangenen Post zu. Für die Show "Hillbilly Reveille" sind täglich ca. 70 Postsendungen bestimmt. Es sind "requests" in den verschiedensten Formen: Briefe, Postkarten, Telegramme. Von einem Hörer berichtete mir Jim Carter, dass er ab und zu Tonbänder mit seinen "requests" schicke. Grösstenteils sind es deutsche Hörer - ich hatte auch viele Karten und Briefe von Mitgliedern des OLE HILLBILLY DRIFTERS Clubs gesehen, die den AFN anschreiben. Aber auch aus allen Teilen Europas und aus Amerika treffen Wünsche ein. Das erklärt die Popularität dieser Morgensendung. 

Über die Zusammenstellung der Sendung ist zu erwähnen, dass es bei der Vielfalt der Wünsche immer grosse Schwierigkeiten bereitet, eine allen Wünschen gerechte Show zusammenzustellen. Ich bin heute nicht ungeduldig, wenn Bill Sellers meinen Wunsch verspätet oder vielleicht einmal gar nicht spielt. Ich weiss aber gewiss, dass Sellers und Tommy Cash - übrigens auch Shorttimer - in ihren Sendungen möglichst alle Wünsche erfüllen. 

Es ist bedauerlich, dass inzwischen niemand mehr von uns die Gelegenheit haben wird, dem AFN einen grösseren Besuch abstatten zu können. Das heisst, ihn zu besichtigen. Leider ist Aussenstehenden kürzlich der Zutritt zu den charakteristischen Räumen untersagt worden. So bleibt mir nur noch die Erinnerung an meine vier Besuche beim AMERICAN FORCES NETWORK und an die zwei Sendungen, die ich miterleben durfte. Ich hoffe aber, dass es anderen C&W Liebhabern später einmal gelingt, trotz des zur Zeit bestehenden Verbots an einer Sendung teilzunehmen. 

Zuerst veröffentlicht in DRIFTERS` ROUNDUP der Ole Hillbilly Drifters im August 1961