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Über die Country Music
Man nennt Virginia nicht mehr Hillbilly
Mit einer Einleitung und einigen zusätzlichen Anmerkungen im Text von Hauke Strübing
 

„In der Country Music war in den vergangenen Jahren ein ungewöhnliches Wachstum zu beobachten. Ihre Popularität nimmt wie eine zu Tal stürzende Lawine zu.“

Diese Sätze stehen nicht als Einleitung eines Beitrags aus neuerer Zeit, nein, diese Sätze wären für diese Zeit ungewöhnlich. Das Wachstum endete mit dem vergangenen Jahrhundert. Seither herrscht eher Stagnation – wenn nicht gar eine rückläufige Entwicklung. Seitdem Garth Brooks seinen Rückzug eingeläutet hat, kann sich die Industrie nicht mehr auf seine horrenden Verkaufszahlen stützen, die eine  nochmals himmelwärts strebende Entwicklung letztlich aber nur vorgaukelte. Die Country Music heute ist von Lethargie befallen. Ihre Entwicklung hat schließlich zur endgültigen Verknüfung mit der Pop Music geführt. Sänger wie Alan Jackson und Brad Paisley sowie einige Texaner neben einigen der alten Garde führen das Genre Country fort. Andererseits hat uns diese Entwicklung zu den Wurzeln zurückgeführt: Die Country Music blüht dort weiter, wo sie einst entsprang: Auf dem Lande. Die Bluegrass Music erlebt derzeit eine Blüte unvergleichlichen Maßes. 

In diese Situation hinein paßt ein Artikel, den wir im Mai 1977 in Heft 54 in der deutschsprachigen Zeitschrift COUNTRY CORNER veröffentlicht haben, aus dem auch die beiden Einleitungssätze stammen: Ein Stück Country Music – Man nennt Virginia nicht mehr Hillbilly! Wenngleich alle anderen Beiträge in COUNTRY CORNER mit Namen gezeichnet waren, kann ich heute nicht mehr nachvollziehen, aus wessen Feder dieser Essay stammt. Der Autor befaßte sich mit der Entwicklung der Country Music in den frühen Jahren, beantwortet die Frage, was die Ursachen der zunächst USA-weiten und später weltweiten Verbreitung der Country Music waren. „Man nennt Virginia nicht mehr Hillbilly!“ ist eine Ergänzung zu dem mehrteiligen Beitrag „Über die Country Music“ an anderer Stelle dieser Homepage. 

Man kann sich nur noch schwerlich an die ersten Radiostationen in den Vereinigten Staaten erinnern. In den 20er Jahren begann das Wachstum der Country Music – damals freilich noch Hillbilly Music genannt – mit dem Bau jener noch leistungsschwachen Sender. Die rasch anwachsende Schallplattenindustrie erkannte sehr schnell die guten Möglichkeiten, ihre Produkte durch die Sender vorzustellen. 

In jenen Tagen kam die Musik unmittelbar vom „kleinen“ Mann. Jene Burschen, die die Ätherwellen zum Singen brachten, waren meist gute Fiddler oder Gitarristen, sie verstanden das Banjo zu spielen und waren Experten auf der Mundharmonika. Es waren Instrumente, die man daheim hatte, die man selbst anfertigen konnte. Fast jeder konnte sie zudem leidlich spielen. Und sie machten Gebrauch davon! Fiddlin´ Bob Haines und seine Four Aces spielten bereits 1921 in Zelten, auf diese Weise zog er durchs Land. Haines war immer noch sehr beliebt, als er 1935 Bob Wills traf und bei dessen ersten Schallplattenaufnahmen dabei war. Bob Haines war vielleicht der erste Hillbilly Musiker, der auf einer Platte zu hören ist: Viele Jahre vorher hatte er den „Arkansas Traveller“ auf einem Edison Zylinder produziert. 

Bob Wills war schon kein reiner Hillbilly mehr, das Radio mag daran seinen Anteil haben. Vielleicht hat er damals geahnt, daß es einmal das Fernsehen geben würde, womit wiederum ein Erdrutsch verbunden war. Wie dem auch sei, viel Wasser ist inzwischen die Flüsse herab geschossen und alles, nicht nur die Country Music hat sich verändert. Die ländliche Bevölkerung Amerikas wurde von den Feldern weg in den 1. Weltkrieg geführt. Als sie zurückkamen, zogen viele von ihnen ein Leben in der Stadt vor. Die Fabriken, technische Neuheiten, die kürzere Arbeitszeit, all das waren Ursachen dafür. Natürlich nahmen diese Leute auch ihre Musik mit in die Stadt. Gerade in jenen Tagen, als man sich daran gewöhnt hatte, den WLS Barn Dance von Chicago zu hören, begann bei WSM in Nashville eine neue Show, die bald zum Markenzeichen Grand Ole Opry werden sollte. 1925 war das. Die Leute saßen spätabends vor dem riesigen Lautsprecher des Batterieradios und horchten auf die liebgewordenen Klänge der Country Music. (Anmerkung: Während meines letzten Besuchs im Ryman Auditorium im Frühjahr 2002 erzählte mir einer der Beschäftigten mehr über diese frühen Tage der Opry. Damals zu Beginn und in den nächsten Jahren war es unüblich, daß einer der Künstler gesungen hätte. Damals wurde ausschließlich Instrumental-Musik dargeboten. Es war Roy Acuff in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, der den Gesang auf der Bühne der Opry einführte und zur Regel machte). 

In rascher Folge schickten andere Radio Stationen ihre Klänge nun in den Äther. Wir kennen WWVA in Wheeling, West Virginia, und WLW in Cincinatti, Ohio. Und ebenso rasch wuchs die Nation. Man konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie die Väter mit der Natur gerungen hatten, wie sie jeden Meter Land urbar machten. Heute wohnte man bereits in Städten, aber man vergaß nicht, womit man einmal begonnen hatte.  Die Musik, der man lauschte, war vom Lande. Dies wußten die ersten Sender auch bereits, und sie begannen, Reklame in ihre Programme einzubeziehen. Damit wurde ein grundlegender Wandel in der Musik eingeleitet. Einige der Instrumente wurden jetzt durch die Stimme ersetzt. Sänger wurden immer beliebter. Der Gesang an sich bewirkte schon einen Wandel der Musik, sie wurde sanfter und weicher. Trotz allem aber war da immer noch reichlich Lärm, Aufregung, Fußstampfen, Klatschen und Spaß (Anmerkung: Einen Rest dieses Spaßes erlebt man heute noch auf der Bühne der Grand Ole Opry, wenn die Square Dancer auftreten. Und noch mehr: Für uns Europäer eher nicht denkbar, daß bei dem Auftritt eines Country-Künstlers – außer bei den Riesenveranstaltungen – direkt vor der Bühne, und wenn dort kein Platz ist, irgendwo im Saal zur Musik des Künstlers getanzt wird. Wir hören und genießen die Country Music, die Amerikaner erleben sie!).  Daran würde man auch nie etwas ändern können, aber die grundlegende Musik und die Künstler wandelten sich, sie wurden besser. In den Städten war die Country Music schon früh weniger „hillbilly“ oder rustikal, und ganz allmählich verschwand im Laufe der Jahre die „Hillbilly“-Einfärbung – der hohe nasale Klang der Stimme. Er wurde mehr und mehr gegen Saiten- und später auch gegen Blechinstrumente ausgetauscht. 

Dieser Wandel fand seine Ursachen in den immer kürzer werdenden Entfernungen zwischen der Stadt und der Farm, immer mehr Menschen verließen ihre Farm. Die Stadt bot ein vollkommen anderes Leben, man kleidete sich modern und sprach auf jede neue Erleichterung an. Die große Wirtschaftskrise trieb viele Menschen Ende der 20er Jahre, Anfang der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück aufs Land. Dort konnte man sich seine Lebensmittel selbst anbauen und überstand die trüben Zeiten. Die einzige Unterhaltung damals war die eigene: Die Familie sang und musizierte daheim, und in den Städten war es nicht anders. Aus der Zeit, in der man Musik zur eigenen Unterhaltung machte, wurde allmählich die Zeit, in der Musik gemacht wurde, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Jahre des Übens und des Experimentierens haben sich für viele Künstler ausgezahlt und auf die Entwicklung der Country Music ausgewirkt. Die Wirtschaftskrise hat vielleicht mehr als alles andere für die Ausbreitung der Country Music gesorgt. Städter gingen zurück aufs Land und nahmen einige ihrer neuen Angewohnheiten mit und vermischten diese mit dem Brauchtum der Landbevölkerung. Andere schlugen den Weg zurück in die Städte ein. Die Bezeichnung  für das Genre Country Music ist indes nie auf das Wort „Farm“ abgestellt worden, vielmehr steht „Country“ für „Nation“, für „Region“ oder „Territorium“: Country Music ist die Musik einer Nation. 

Die Jahre zwischen den Weltkriegen brachten für die USA große Verschiebungen innerhalb des Landes. Aus der landwirtschaftlichen Nation wurde innerhalb kürzester Zeit eine riesige Industrienation. Das technische Wachstum wetteiferte mit dem kulturellen und wissenschaftlichen; das Volk wurde sowohl zahlenmäßig als auch geistig größer. Aus Farmern wurden Arbeiter. Diese Entwicklung konnte nicht ohne weiteren Einfluß auf die Country Music bleiben. 

Nach dem 2. Weltkrieg dann entwickelte sich die Country Music zu einer weltweiten Bewegung. Amerikanisches Militär wurde in aller Welt stationiert, die Country Music folgte auf Tonbändern, im Radio und Fernsehen – und natürlich auf Schallplatten. Die Sänger traten nicht länger in Cowboy-Monturen auf, denn Roy Acuff, Eddy Arnold, Tennessee Ernie Ford oder (geradezu exemplarisch) Gentleman Jim Reeves stand ein Bühnenanzug viel besser zu Gesicht. Die Musik war nicht mehr Hillbilly, die Musik war eine Mischung aus vielen ursprünglichen amerikanischen Stilrichtungen: Bluegrass, Cajun, Western Swing, texanischer Two-Step, mexikanisch-texanische Klänge, Folk und Oldtime - alles dargeboten als Herz-Schmerz und in Geschichten. Kurz von allem etwas, was die Leute zu Hause sangen, spielten, fühlten und erlebten. 

Immer weniger Menschen leben heute noch auf einer Farm, aber in nahezu jeder Familie findet man Vorfahren, die noch selbst Pionierarbeit geleistet haben. Daran erinnert man sich und dabei hilft die Country Music. Sie ist oft eine Flucht aus dem hektischen, geschäftigen Leben zurück in die Tage, als alles noch gemütlicher, einfacher und sauberer war. Vielleicht liegt hierin der Schlüssel für den Erfolg der Country Music. 

Die Country Music geht mit der Zeit, sie muß es notgedrungen. Dies muß nicht unbedingt gut oder schlecht sein. Was vor einer Generation ein Tom T. Hall war, was Merle Haggard war, was später Kris Kristofferson war, war vor ihnen Hank Williams. Nur gab es nach Hank Williams viel mehr Künstler vom Schlage eines Tom T. Hall, eines Merle Haggard und eines Kris Kristofferson, als es vor 50 Jahren Hank Williams gab.  

Die Frage, welche Bedeutung die Country Music der Gegenwart hat, ist noch zu beantworten."